Herz und Hirn kommunizieren eng miteinander. Der Vagusnerv, der 10. und längste Hirnnerv, spielt dabei eine wichtige Rolle. Er kann auch ein zentraler Ansatzpunkt sein, um in stressigen Lebensphasen selbst aktiv gegenzusteuern. Denn Stress und Sorgen erhöhen nachweislich das Risiko für Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Herzinfarkt. Ein Gespräch mit Privatdozentin Dr. Cora Stefanie Weber.
Frau Dr. Weber, was macht den Vagusnerv so besonders für unser Herz?
Der Vagusnerv ist der längste Hirnnerv, den wir haben, und der wichtigste Nerv des sogenannten Parasympathikus – also des vegetativen Nervensystems, das für Entspannung und Erholung sorgt. Er hat ein enormes Verbreitungsgebiet und verbindet das Gehirn mit Herz, Lunge und den Verdauungsorganen. Wenn er aktiv ist, schlägt das Herz ruhiger, der Blutdruck sinkt, Atmung und Verdauung laufen entspannt ab.
Der zweite Teil unseres unbewusst gesteuerten Nervensystems ist der Sympathikus – das „Stress- und Leistungssystem“. Gerät dieses dauerhaft in den Vordergrund, etwa durch Anspannung oder Angst, bleibt das Herz in Alarmbereitschaft. Dann fehlt die erholsame Bremse des Vagusnervs.
Was genau passiert, wenn das Gleichgewicht zwischen Entspannung und Anspannung verloren geht?
Unser Körper reagiert auf Stress mit erhöhter Herzfrequenz und der Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Cortisol. Wenn dieser Zustand chronisch wird, begünstigt das Bluthochdruck, Gefäßverengungen und Rhythmusstörungen – und erhöht langfristig das Risiko für einen Herzinfarkt.
Ein wichtiger Messwert, wie gut unser Herz auf solche äußeren Umstände reagieren kann, ist die Herzratenvariabilität (HRV), also die natürliche Schwankung zwischen einzelnen Herzschlägen. Eine hohe HRV zeigt, dass das Herz flexibel auf Belastung und Ruhe reagieren kann. Eine niedrige HRV gilt dagegen als Warnsignal für Stress und ein erhöhtes Herzrisiko.
Herzratenvariabilität einfach erklärt
Die Herzratenvariabilität (HRV) beschreibt die natürlichen Schwankungen (zeitlichen Abstände) zwischen den einzelnen Herzschlägen. Sie zeigt, wie flexibel das Herz auf innere und äußere Einflüsse reagiert. In Ruhe schlägt das Herz zum Beispiel gleichmäßig insgesamt 60 Mal in der Minute. Bei sportlicher Belastung kann die Herzfrequenz je nach Alter und Fitness deutlich ansteigen, bei einem Jogginglauf zum Beispiel auf 130 bis 140 Schläge pro Minute, bei Jüngeren je nach Tempo sogar bis 180 pro Minute.
Hohe HRV: Das Herz passt sich gut an wechselnde Situationen (z.B. Sport- und Ruhephasen) an – ein Zeichen für ein gesundes, stressresistentes Herz-Kreislauf-System.
Niedrige HRV: Das Herz reagiert weniger flexibel. Das kann auf Dauerstress, Überlastung oder eine erhöhte Herz-Kreislauf-Belastung durch Herzkrankheiten, Atherosklerose oder Diabetes mellitus hinweisen.
Die HRV lässt sich im EKG, in Langzeitaufzeichnungen oder mit einigen modernen Smartwatches erfassen. Entscheidend ist nicht ein einzelner Wert, sondern der Verlauf über die Zeit. Ein Abfall gilt als prognostischer Marker für ein erhöhtes Herzrisiko.
- Chronischer Stress und Schlafmangel
- Bluthochdruck und Diabetes mellitus
- Atherosklerose / Koronare Herzkrankheit
- Bewegungsmangel und Übergewicht
- Depressive Verstimmungen und Angststörungen
- Alter (die HRV nimmt im Laufe des Lebens natürlicherweise ab)
Regelmäßige Bewegung (z. B. Spaziergänge, Ausdauertraining in moderatem Tempo), Entspannungstechniken wie Atemübungen, Meditation oder Progressive Muskelrelaxation sowie ausreichend Schlaf und bewusste Erholungsphasen in stressigen Zeiten tragen zu einer ausgeglichenen HRV bei.
Gibt es besonders gefährdete Menschen, die aufgrund von Stress zu einem Herzinfarkt neigen?
Ja, die gibt es. Man nimmt zum Beispiel an, dass Menschen mit Angststörungen eine erhöhte Bereitschaft haben, auf Reize von innen und außen mit überschießenden Angstreaktionen zu reagieren. Diese Reize werden als vermeintliche „Gefahren“ interpretiert. Dem Gehirn gelingt es nicht, diese unnötigen Angstreaktionen ausreichend zu unterdrücken. Der Vagusnerv kann nicht mehr ausreichend gegensteuern. Evolutionsbiologisch sind wir Menschen nämlich eigentlich auf Angst und Flucht- bzw. Kampfbereitschaft getrimmt. Doch unser Gehirn – vor allem der Stirnlappen – hat gelernt, dass das meist gar nicht nötig ist im Alltag und „blockiert“ daher eine ständige Angstreaktion. Bei Menschen mit Angststörungen und Panikattacken liegt jedoch eine Fehlregulation vor und sie geraten so in einen chronischen, gesundheitsschädigenden Stresszustand mit hohem Adrenalinausstoß, der das Risiko für einen Herzinfarkt erhöht.
Und auch Menschen mit ausgeprägten Sorgen – etwa durch berufliche Unsicherheiten, finanzielle Belastungen oder Zukunftsängste, haben ein erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt. Damit ist der typische „Managerstress“ – bedingt durch viel Arbeit, Ehrgeiz, Konkurrenzstreben – überholt, es sind vielmehr Menschen in benachteiligten sozialen Schichten, die einem deutlich höheren Infarktrisiko ausgesetzt sind, wie wir heute wissen.
Auch viele Herzpatientinnen und -patienten berichten von Ängsten nach einem Infarkt. Wie gefährlich sind für sie diese psychischen Belastungen?
Auf jeden Fall ernst zu nehmen. Denn sie werden immer noch häufig nicht erkannt und insgesamt unterschätzt. Dabei belegen Untersuchungen, dass etwa jeder Vierte nach einem Herzinfarkt eine Angststörung oder Depression entwickelt. Eine Depression verdoppelt nahezu das Risiko für erneute Herzereignisse, etwa einen weiteren Herzinfarkt.
Deshalb gehört heute zur modernen Kardiologie auch die Psychokardiologie: Sie hilft Betroffenen, Ängste zu verstehen, Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen und Stressreaktionen besser zu regulieren. Gespräche, Gruppenangebote und psychologische Begleitung in der kardiologischen Nachbehandlung, speziell in der Rehabilitation nach einem Herzinfarkt, sind daher essenziell. Und auch später können Herzkranke entsprechende Hilfe in Anspruch nehmen.
Studiendaten belegen: Ein besseres Bewusstsein für die eigenen Gefühle geht mit einer stabileren Herzaktion einher. Wie funktioniert das?
Wir wissen inzwischen, dass das Sprechen über Gefühle, über Ängste hilft, diese Gefühle besser zu bewältigen und implizit dann auch die Herzratenvariabilität wieder zu verbessern. In der Wissenschaft sprechen wir hier von der “emotional awareness“ sowie der „Mentalisierungsfähigkeit“, die man auch gezielt therapieren kann.
Dabei werden zum Beispiel zunächst das eigene Verhalten und dann zunehmend die inneren mentalen Zustände wie Gedanken, Gefühle, Wünsche reflektiert, um Verhaltensmuster besser zu verstehen und aktiv zu verändern. Dieses Wissen machen wir uns auch in der Psychokardiologie zunutze.
Und wie kann man denn den Vagusnerv stärken und Stress gezielt abbauen?
Alles, was Entspannung und Achtsamkeit fördert, aktiviert den Vagusnerv: Bewegung, bewusste Atmung, Meditation oder Spaziergänge. Wichtig ist, etwas zu finden, das zu einem passt.
Wer mit Meditation nichts anfangen kann, profitiert zum Beispiel oft schon von achtsamem Gehen. Das bedeutet: Im Wald bewusst die Geräusche hören, den Wind spüren, den eigenen Atem wahrnehmen. So kann man den Kopf beruhigen – und das Herz gleich mit.
Eine weitere einfache und effektive Methode, um Herz und Nerven zu beruhigen, ist zum Beispiel die 4x4-Atemübung. Die geht folgendermaßen:
- Vier Sekunden einatmen
- Vier Sekunden den Atem halten
- Vier Sekunden ausatmen
- Vier Sekunden Pause halten
Stellen Sie sich das Ganze als Quadrat vor, an dem sie entlang atmen. Wiederholen Sie das einige Male. Sie werden merken: Schon nach zwei bis drei Minuten sinkt der Puls und das Herz schlägt ruhiger.
Welchen Tipp für jeden Tag möchten Sie Herzkranken noch mitgeben?
Nehmen Sie sich jeden Tag zehn Minuten Zeit, um innezuhalten: Was hat mich heute belastet, was hat mich gefreut? So entsteht Bewusstsein für die eigenen Gefühle – und das schützt auch das Herz.
Und: Bewegung ist die beste Medizin. Ein Spaziergang, leichtes Radfahren oder Schwimmen – Hauptsache regelmäßig und mit Freude. Auch das stärkt Körper und Psyche.
Das Gespräch führte Medizinredakteurin Ruth Ney (vollständig zu hören im imPULS-Podcast)
Fazit
Stress lässt sich nicht vermeiden – aber man kann lernen, ihn zu bewältigen. Wer regelmäßig für Entspannung sorgt, ausreichend schläft, sich bewegt und auf seine Gefühle achtet, kann Herz und Seele gleichermaßen schützen.
Ein unerwartet dynamisches Duo
Wechselwirkung: Wie Herz und Hirn zusammenspielen
Expertin
Chefärztin der Fachabteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Klinik Hennigsdorf, Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin.
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Stress und hoher Blutdruck
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